Lena soll ihrer Oma heute auf der Obstwiese helfen. Sehr viel Lust hatte sie nicht. Viel lieber möchte sie im Schatten liegen und den Wolken bei ihrer Reise über den Himmel zusehen. Sie hebt einen großen, rotbackigen Apfel auf und beißt genüßlich hinein. Kaum hat sie gekaut, spürt sie plötzlich ein seltsames Kribbeln – ihr Kopf wird ganz leicht, der Boden unter ihren Füßen verschwindet, und ehe sie sich versieht, steht sie mitten auf einem schwankenden Holzdeck. Um sie herum karren Segel, Möwen kreischen, und salzige Meeresluft weht ihr entgegen.
„He, wer bist du denn?“ Eine raue Stimme lässt sie herumfahren. Vor ihr steht ein bärtiger Matrose mit wettergegerbtem Gesicht. In der Hand hält er – ebenfalls einen Apfel!
„Ich… ich heiße Lena. Wo bin ich hier?“ stammelte sie.
Der Matrose grinst. „Du bist auf der Seeadler, einem Handelsschiff des 18. Jahrhunderts. Und das hier…“ Er hielt seinen Apfel hoch. „…ist das Beste, was ein Seemann an Bord haben kann!“
„Ein Apfel?“ fragte Lena verwundert.
„Ja, genau! Wir bekommen nicht viel frisches Obst auf See. Ohne Äpfel würden wir an Skorbut erkranken – einer schlimmen Krankheit, weil uns die Vitamine fehlen. Ein Apfel pro Tag kann das verhindern. Und weißt du was? Er schmeckt auch noch wie ein Stück Heimat.“
Lena betrachtet ihren eigenen Apfel. Dieselbe Frucht, durch die sie hierhergekommen war.
„Iss ihn ruhig auf, bevor er schlecht wird“, sagte der Matrose und beißt herzhaft in seinen Apfel.
Lena tut es ihm nach – und schon spürt sie wieder das seltsame Kribbeln. Das Schiff, das Meer, der Matrose – alles verschwimmt vor ihren Augen.
Als sie blinzelt, steht sie wieder auf der Streuobstwiese. Noch immer hält sie den Apfel in der Hand, doch jetzt schmeckt er für sie nach so viel mehr. Sie lächelt. Wer hätte gedacht, dass ein Apfel so viel Geschichte in sich trägt?


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